Ein Album für den amtlich beglaubigten guten Geschmack. (2024)

laut.de-Kritik

Ein Album für den amtlich beglaubigten guten Geschmack.

Review von Yannik Gölz

Warum muss Taylor Swift den langweiligsten Konventionen der "erwachsenen Musik" folgen, um für uralte Stärken ernst genommen zu werden? Ihr achtes Album "Folklore" pellt den Pop vom Popstar und reduziert ihren vielseitigen Sound auf ein minimales Folk-Album. Jetzt dürfen endlich auch die Karohemden der Welt, die ihre bisherige Arbeit mit naserümpfenden "Iiiih, Mädchenmusik" ignorierten, mit gutem Gewissen feststellen, dass Taylor Swift zu den besten Textern ihrer Generation gehört.

Liest man erste Kritiken zu "Folklore", entdeckt man begeistert sabbernde Redakteure auf einer Schnitzeljagd, wie viele The National-Soundverweise aus einer Platte zu quetschen sind. Denn jeder weiß, Indie = gut und Pop = schlecht, weswegen dieses Album auch als ganz gut durchgeht, weil man dann über die Kerle dahinter reden darf. Das ist grenzdebiler Blödsinn. Diese Platte hat eine und eine einzige Stärke, die sie vor der gähnenden Langeweile ihrer anbiedernden Berufslangweiler-Produktion rettet – und zwar Taylor Swift selbst. Ihr Erzählvermögen und ihre schwerelosen Vocals halten "Folklore" großartig.

"Folklore" destilliert ihre Ästhetik. "The Last Great American Dynasty" zum Beispiel erzählt die Geschichte von Rebekah Harkness nach, einer Kunstliebhaberin, die den Erben einer Öl-Firma heiratet. Die Erzählperspektive pendelt geschickt zwischen dem Blick der lebensfrohen Frau und der Chronik einer konservativen Gesellschaft. Der Text durchdringt das Wesen amerikanischer Aristokraten mit sezierender Genauigkeit. Die Erzählerin erweckt das Echo des Schickeria-Tratsches der Villen Rhode Islands und den all-ruinierenden Hedonismus von Harkness mit neugierigem Einfühlungsvermögen zum Leben.

"Fifty years is a long time / Holiday House sat quietly on that beach / Free of women with madness, their men and bad habits / And then it was bought by me". Das zweigleisige Erzählen schließt mit einem Twist: Taylor führt sich selbst als Protagonistin ein und dreht die Perspektive. Die sprunghafte Erzählstimme ordnet sich rückwirkend ihrem Blick zu und alle Beobachtungen über Harkness entpuppen sich als Swifts Identifikationen mit einer Frau, die nirgends je ganz ankam: "There goes the loudest woman this town has ever seen / I had a marvelous time ruining everything", resümiert sie, auflösend, ob sie gerade über Rebekah oder sich selbst spricht. Ihre Beobachtungen sind nicht nur Einblicke in einen verschlossenen Teil Amerikas, gleichzeitig charakterisieren ihre Rückschlüsse sie auch als Person.

Die Geschichte eines anonymen Liebes-Dreiecks um Rebekah, genannt Betty, umspannt "Folklore "als Rahmenhandlung, immer wieder tauchen Motive von Betrug, Unschuld, Vorbestimmung und Dynastie auf. Die Charaktere James und Betty geben den Erzählungen von Swift Bodenständigkeit, die sich gut in die musikalische Textur einfügt. Für eine Künstlerin, die Zeit ihrer Karriere laut dafür kritisiert wurde, zu viele Texte um sich selbst zu zentrieren, entwirft sie hier Charaktere wie aus Sylvia Plath-Romanen; Figuren, die den Mythos des Americana entzaubern, ohne dessen Glanz zu leugnen.

Songs wie "Seven", "Mirrorball" und "Invisible String" bieten weitere Hochpunkte. In den besten Momenten nimmt die Musik ätherische Gestalt an, nicht zuletzt hat Swift schon auf "The Archer" mit dem Dream Pop kokettiert. Nun ergänzt sie diese Kulissen mit Einflüssen von Carole Kings "Tapestry", eventuell sogar mit Bruce Springsteens "Nebraska"-Ära. Die Bildkraft von Verses wie "Please picture me in the trees / I hit my peak at seven / Feet in the swing over the creek / I was too scared to jump in / But I, I was high in the sky / With Pennsylvania under me / Are there still beautiful things?" schlägt durch und bildet ein eindringliches Portrait des Amerikas, mit dem Swift aufgewachsen ist. In den besten Momenten zeichnet "Folklore" Nostalgie und Bittersüße, in Leder geschlagene Polaroid-Alben mit vergilbten Bildern, Gegenwart und Vergangenheit treffen in Zeilen wie "Time, wondrous time / Gave me the blues and then purple-pink skies" aufeinander.

Genau diese Stärken hätte man aber schon auf den besten Momenten von "1989", "Red" und "Lover" ausmachen können. In ihrer Dokumentation "Miss Americana" spricht Swift nach der ausbleibenden Nominierung für einen Grammy nach "Reputation" davon, dass sie einfach ein besseres Album hätte machen müssen. "Lover" hätte dieses Album sein sollen, aber trotz eines poptimistischen Zeitgeistes tun sich die dominanten Kritiker der Welt schwer, einer gewinnenden Frau ihre Anerkennung zu geben. "Lover" hatte Schwächen, ja, aber darüber hinaus hatte es von vorne herein keine Chance.

"Folklore" gibt nun nach. Es ist das Album für den amtlich beglaubigten guten Geschmack. Was sofort als wagemutiger Fortschritt in ihrer künstlerischen Selbstfindung gefeiert wurde, ist in Wahrheit ein mutloser Rückschritt auf musikalische Tropen, die aus unerfindlichen Gründen als respektabler gelten. Aber nicht einmal lässt sie sich auf vorwärts denkende Zeitgenossen und Zeitgenossinnen wie Phoebe Bridgers, Waxahatchee, Snail Mail, Perfume Genius oder Courtney Barnett ein, die die selbe Nische Americana-Pop in den letzten zwei Jahren zur Brillanz erkundet haben. Die Platte wird von den abgehalfterten Kritiker-Lieblingen Aaron Dessner (The National) und Jack Antonoff (Bleachers) produziert.

Gerade letzterer weiß natürlich, wie man konzeptuelle Pop-Alben angeht und auch ersterer mag seine Momente haben, wenn man auf Musik mit einem immensen Stock im Arsch steht. Abseits der musikalischen Highlights macht die Produktion beizeiten aber ein Ödland aus "Folklore". "August" und "This Is Me Trying" tröpfeln trotz fantastischer Lyrics durch die Laufzeit und das letzte Drittel tuckert so gänzlich ohne Puls und Lebenskraft dahin, man möchte glauben, der Klang einer Snaredrum hätte die bedröppelten Piano-Opas am Beat per Herzinfarkt ins Jenseits befördert.

Wäre es verboten gewesen, dieses Album mit Hooks und Rhythmen aufzunehmen? Reduktion in Ehren, aber wir leben in Zeiten, in denen die Binarität von Pop und "Musik mit Anspruch" zurecht weiter und weiter verschwindet. Taylor Swift selbst hat mit Songs wie "Style", "Wildest Dreams" und "Welcome To New York" gezeigt, wie nah virtuoses Erzählen oder evokatives Sound-Design mit bombastischen Hooks und lebendiger Musik zusammenfallen kann. "Folklore" dagegen wirft all ihr Potential, beide Welten zu bespielen, über Bord und gibt sich mit einem Album zufrieden, das in bolden Lettern "erwachsen" und "anspruchsvoll" an die weiße Wand schreibt, nach der es klingt. Dabei zeigen musikalisch beflügeltere Momente wie "Cardigan", "Mirrorball" und "Seven" ja sogar, dass das nostalgische, stille Konzept dieser Platte musikalisch aufregend hätte sein können.

Die Wahrheit ist: Auch wenn dieses Album allein durch die textlichen Stärken von Taylor Swift immer noch zu den besten des Jahres gehört und für die Erzählung und Atmosphäre jede Anerkennung verdient, ist es eine Schande, dass die andere Hälfte ihrer Stärken dafür in den Wind geschossen wurden. Pop-Taylor, großartiger Chorus-Taylor, tanzbare Taylor, all das verdünnt sie als Texter nicht und hat es nie getan. Der Schritt, die Reduktion und Stimmung mit ihrer Pop-Virtuosität in Einklang zu bringen, ist der Schritt, der "Folklore" zur endgültigen Großartigkeit fehlt. "Folklore" ist ein gutes Album. Wer es aber für Taylor Swifts bestes hält, hat bisher nicht wirklich zugehört.

Ein Album für den amtlich beglaubigten guten Geschmack. (2024)
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